Von Prof. Dr. Hans-Martin Schweizer
1. Traditionell war der Schulweg ein wesentlicher Teil institutioneller Erziehung und ihrer lokalen Organisationsform.
Für Kinder im schulpflichtigen Alter - in Württemberg seit 1559 - war es bis in die frühen 70er Jahre des letzten Jahrhunderts selbstverständlich, dass Kinder in der Stadt und auch im ländlichen Bereich ihre Schule täglich zu Fuß erreichten. Dabei mussten oft beträchtliche Strecken bei Wind und Wetter zurückgelegt werden.
Da im Gegensatz zu heute ein ungleich dichteres Netz von Schulen bestand - eine Dorfschule wurde eingerichtet, wo immer eine Pfarrgemeinde war - konnte dieser Weg den Kindern zugemutet werden.
Dabei wurde zunehmend erkannt, dass der Schulweg eine eigene Form von Bildung ermöglicht, die weder von der Familie noch von der Schule vergleichbar geleistet werden können. Gewissermaßen in der "Zwischenwelt" des Schulwegs von vertrauter familiärer Umwelt und organisierter Erziehung in der Schule finden Lern- und Bildungsprozesse statt, auf die weder Lehrer noch Eltern einen unmittelbaren Zugriff haben. Sie sind im wahren Wortsinn "frei" und folgen dem Postulat eines nichtorganisierten Lernens, das weder durch die Familie noch durch die Schule ersetzt werden kann. Als Vorstoß in die Weite und als Schritt vom Vertrauten ins Unvertraute erschließen sich hier Kinder ein Erfahrungsfeld, das ebenso die heimatliche Umwelt in ihrer Vielfalt wie die individuelle Seite des Muthaften umfasst. Hier werden außerhalb des angestammten Reviers neue Freundschaften und Solidargemeinschaften geschlossen, Rivalitäten ausgetragen, vertraute Pfade, aber auch notwendige Umwege gegangen. Dabei werden Entdeckungen, Funde und alles Mögliche gemacht, wie sie nur dem kindlichen Blick eigen sind. Der eigene Leib und seine Belastbarkeit werden zum Gradmesser dieser Raum- und Zeiterfahrung: So unterscheidet sich etwa der Weg in die Schule sowohl zeitlich als auch räumlich von dem nach Hause.
Insofern war es durchaus sinnvoll, dass in der traditionellen Pädagogik der Schulweg als eine eigene Form des Weges des Kindes im Prozeß des Erwachsenwerdens beschrieben wurde. Dies hat sich seit den 70er Jahre des letzten Jahrhunderts radikal geändert. Mit der Schließung vieler Dorfschulen und der Einrichtung von Mittelpunktschulen ist der Schulweg insbesondere im ländliche Bereich verschwunden und ersetzt worden durch moderne Verkehrsmittel wie Schulbus und Schultaxi. Damit aber ist sowohl der heimatkundliche Bereich als auch der individuelle Bereich der Selbsterfahrung von Schulkindern, wie er auf dem traditionellen Schulweg gegeben war, mehr oder weniger verloren gegangen.
2. Vor dem Hintergrund dieser Voraussetzung hat die Grundschule Fornsbach ein unterrichtliches Vorhaben durchgeführt, das ein Stück weit an die Bedeutung des alten Schulwegs erinnern wollte.
Die Grundschule Fornsbach weist ein bemerkenswert großes Einzugsgebiet mit Teilorten und abgelegenen Höfen auf, die den Kindern außerhalb ihres Wohngebiets weitgehend unbekannt sind. (Fornsbach, Kirchenkirnberg, Mettelberg, Hinter- und Vorderwestermurr, Unter- und Oberneustetten, Käsbach, ...)
Die Absicht, die Schule wieder ins Dorf zurückzuholen bzw. das Dorf in die Schule zu holen, wurde folgendermaßen umgesetzt:
Räumlich:
Die Kinder legten jeweils den Schulweg zu Fuß zurück: die Kinder von den Teilorten zur Schule nach Fornsbach; tags darauf die Kinder aus Fornsbach in die Teilorte, wo ehemals Schulen waren. Dabei mussten erhebliche Wegstrecken mit bis zu acht Kilometern buchstäblich durch Wald, Wiesen und Felder zurückgelegt werden.
Zeitlich:
Das Ganze fand im regulären Schulbetrieb statt, so dass die Fornsbacher Kinder montags ihren normalen Unterricht bis zur Ankunft der "Schulwegskinder" am späten Vormittag hatten. Tags darauf wanderten die Fornsbacher Kinder zu den Teilorten, wo die Einheimischen an "ihrem" Ort in einer improvisierten Dorfschule Unterricht hatten, "ihren Ort" in einem Lerngang heimatkundlich erschlossen und thematisiert hatten. Die Rückfahrt erfolgte um die Mittagszeit mit dem Schulbus.
Pädagogisches Feld:
Das Unterrichtsvorhaben Der Schulweg als Weg des Kindes als eigenes pädagogisches Feld erfüllte in hohem Maße die intendierten Erwartungen.Obwohl je eine Lehrkraft und eine Begleitperson die einzelnen Gruppen auf ihrem Weg begleitet haben, konnten Lern- und Bildungsprozesse beobachtet werden, die in dieser Form nur in dieser "Zwischenwelt" des Schulwegs als ein nichtorganisiertes, dafür faszinierend lebensnahes Lernen und Aufmerken entstehen konnten.
Als Vorstoß ins weitgehend Unvertraute haben hier die Kinder mit einem Erfahrungsfeld Bekanntschaft gemacht, das Begegnungen eigener Art mit der heimatlichen Umwelt in einer Vielfalt zuließ, die erstaunlich war. Dabei wurden Entdeckungen, Funde und alles Mögliche gemacht, die sich in dieser Form nur dem kindlichen Blick zeigen: Spinnennetze, Spinnenarten, der Blick zurück zum Dorf, monströse Baumgestalten, Begegnungen mit dem Hund eines Jägers, Früchte des Waldes wie Eichel und Bucheckern (die bislang unbekannt waren und mit Leidenschaft gesammelt wurden) usw.
Aber auch bewegende Freundschaften und Solidargemeinschaften ("Partnerschaften") wurden geschlossen, die selbst riskante und gefährliche Wegstrecken mit Mut und Stolz bewältigbar machten. Ganz zu schweigen von der Hilfsbereitschaft, die zwischen den älteren Schülern im Umgang mit den jüngeren zu beobachten war.
Beeindruckend war aber auch die Belastbarkeit des eigenen Leibes: Da die Grundschule Fornsbach im Sinne des Jenaplans die Jahrgänge 1 bis 3 zu einer Gruppe zusammenfasst, waren an den Wanderungen auch die neueingeschulten Erstklässler beteiligt. Auch diese bewältigten ohne Murren und Klage die enormen und anstrengenden Wegstrecken. (Eine Leistung, die in einer herkömmlichen Jahrgangsklasse undenkbar wäre.)
Als erstes Resumée glauben die Verantwortlichen sagen zu könne, dass die Erschließung der näheren und weiteren heimatlichen Umgebung in Form des Schulwegs eine lohnenswerte Zugriffsweise auf Wissen und Bildung verspricht.
Jedenfalls hat sie bei den Kindern in gesteigertem Maße Wachheit und Aufmerksamkeit ausgelöst hat, die Grundlage jeglichen (und das heißt: nicht nur schulischen) Lernens sind.